SANKT-VITH  NEUSTADT

Das Schuljahr ist zwei Tage jung. Letzte Woche bestellten Holländer noch lautstark Kuchen bei Bäckerei Fonk, und bei Metzgerei Peeters griff eine verrauchte Antwerpenerin verzweifelt nach Google Translate, weil auch ihr Marcel mit den Achseln zuckte und zugab, nicht zu verstehen, was die freundliche Verkäuferin mit einer 'Tüte' meinte. Ja, die Hauptstraße fühlt sich an diesem frühen Septembermorgen wie ein Strandhotel nach der Hochsaison an: die letzten Gäste haben endlich die Tür verlassen, die Schaufenster werden sauber gemacht, die Prospekte der Tourist-Info finden wieder ihren Platz in den Auslagen und erneut erklingen nur Grüße in Eifeler Platt.

Der Campinggast im nahe gelegenen Wiesenbach, sowie die Hobbyhistoriker und die amerikanischen Urenkel von Soldaten, die in dieser Region bei der Ardennenoffensive in großer Zahl ums Leben kamen, wissen, dass das aufgeräumte Städtchen Anfang 1945 in Trümmern lag. Die Eisenbahninfrastruktur würde sich nach dem Zweiten Weltkrieg nie wieder rentieren, wie das Bahnhofsgebäude als einsame Witwe bezeugt. Nach dem sibirischen Kriegswinter 1944-45 konnte man die Zahl der unbeschädigten Gebäude, darunter die Hauptkirche und das Krankenhaus, an einigen Händen abzählen.


Das Tauwetter von 1945 brachte auch die Befreiung. Das alte Zentrum war so zerrüttet, dass Bürgermeister Frères mit Hilfe der belgischen Ministerien gezwungen war, am Stadtrand ein Kasernenviertel mit rund 150 Notunterkünften für rund 1 200 Einwohner zu errichten. In dieser neuen Stadt entwickelte sich ein neues soziales und kommerzielles Leben. Noch heute kennt jeder Sankt-Vither diesen Stadtteil als 'Neustadt'. Inzwischen wurde das Zentrum, wie in vielen deutschen Städten, nach den Federstrichen der anonymen Stadtarchitektur der 1950er Jahre wieder aufgebaut.

Zwischen 1966 und Anfang der 1980er Jahre wichen die baufälligen und größtenteils unbewohnten Kasernen in der Neustadt komfortablen Sozialwohnungen. Die Nachbarschaft beteiligt sich kaum an den Aktivitäten. Auf dem benachbarten Carrefour-Parkplatz, in Richtung Zentrum, geht der Kontakt bei den meisten Autos aus. Näher kommen sie nicht.

Ich gehe die Handvoll Sackgassen und Fußwege auf und ab, rieche den köstlichen Curryduft und höre eine Überseesprache durch ein offenes Fenster. Ich lese den Namen Silvio Gesell auf einem Straßenschild und erfahre später am Abend, dass er im preußischen Sankt-Vith des späten 19. Jahrhunderts als selbsternannter ethischer Vegetarier und Weltbürger aufgewachsen ist. Ich kann mir vorstellen, dass Silvio es sich dort mit seiner Lebensvision nicht leicht gemacht hat. Gleichzeitig wünsche ich ihm die Möglichkeit zu erkennen, dass Glückssucher heute in seinem Namen sozusagen eine Heimat gefunden haben. Es klingt auch so viel weniger anonym als 'Neustadt'...

STEINEBRÜCK

Wie haargenau kann ein alter Name heute einen Ort beschreiben. Man hört es sofort im Namen 'Steinebrück': schon die Römer bauten hier eine 'steinerne Brücke' über die Our. Die 1920 gezogene belgisch-deutsche Grenze riss der Weiler für immer in einen belgischen und einen deutschen Teil. An der Brücke erschien das obligatorische Zollamt mit Schranke.

Seit 1984 verbindet ein Viadukt die belgische E42 mit der Bundesrepublik Deutschland. Alle Flamen die in den Schwarzwald wollen, werden von ihren Navigations-Apps über diese Ourtalbrücke geführt. Hin und wieder bebt der Himmel über Steinebrück: ein Lkw auf seinen ersten oder letzten Hektometern auf belgischem Boden.

Seitdem steht das Zollgebäude buchstäblich im Schatten des majestätischen Bauwerks. Ich erinnere mich an ein altes Foto des Gebäudes mit einer gemalten Botschaft, im Sinne von 'Wege nach Europa'. War es ein Vater oder Nachbar der 8 hier noch registrierten Seelen, der sich als Enthusiast von Helmut Kohls europäischem Projekt äußerte?

Wieder zittert die Luft für ein paar Sekunden. Der europäische Abschied ist von den frisch getünchten Wänden verschwunden. Immer noch eine Betonbrücke, ich sagte es ja schon: Steinebrück behält seinen Namen. Auf der anderen Seite der Our schlängelt sich die Straße nach Deutschland: jenes großartige Land, in dem das technisch Beste von allem hergestellt wird, einer der wichtigsten Handelspartner für so ziemlich jeden Staat der Erde, das Traumziel der schicken Städtereisenden und gestandenen Bergsteiger ... Aber hier noch nicht, bislang ist hier alles ruhig und friedlich.

Während ich auf günstigeres Sonnenlicht warte, stelle ich fest, dass die Ourtalbrücke in keinster Weise stört. Im Gegenteil, seine Anwesenheit trägt zum Charme dieses Ortes bei. Die Fichten werden nicht mehr vom periodischen Zittern hoch über den Wipfeln überrascht. Auch die 13 Häuser - ich habe sie gezählt - bleiben ungestört, trotz der lauten Durchfahrt eines deutschen Milchtransporters.

Mir ist klar, dass 'Wege nach Europa' in reinem Weiß gestrichen wurde, weil es keine Botschaft ist, an die die Einwohner noch erinnert werden müssen. Sie 'leben' den europäischen Traum: so malerisch Steinebrück und die einst von einer Grenze zerrissenen Nachbardörfer, hier erlebt man den europäischen Traum in seiner reinsten Form. Die Menschen wohnen und spielen Fußball in Belgien, arbeiten im Großherzogtum und kaufen ein und besuchen die Kneipe in Deutschland.

In der Praxis leben sie das Leben ihrer Vorfahren; vor 1920 waren auch sie Grenzgänger, heirateten und pilgerten beiderseits der damals belgisch-preußischen Grenze. Manchmal offenbart sich die Geschichte als ein vollkommen runder Kreis.