SANKT-VITH NEUSTADT
Das Schuljahr ist zwei Tage jung. Letzte Woche bestellten Holländer noch lautstark Kuchen bei Bäckerei Fonk, und bei Metzgerei Peeters griff eine verrauchte Antwerpenerin verzweifelt nach Google Translate, weil auch ihr Marcel mit den Achseln zuckte und zugab, nicht zu verstehen, was die freundliche Verkäuferin mit einer 'Tüte' meinte. Ja, die Hauptstraße fühlt sich an diesem frühen Septembermorgen wie ein Strandhotel nach der Hochsaison an: die letzten Gäste haben endlich die Tür verlassen, die Schaufenster werden sauber gemacht, die Prospekte der Tourist-Info finden wieder ihren Platz in den Auslagen und erneut erklingen nur Grüße in Eifeler Platt.
Das
Tauwetter von 1945 brachte auch die Befreiung. Das alte Zentrum war so
zerrüttet, dass Bürgermeister Frères mit Hilfe der belgischen Ministerien
gezwungen war, am Stadtrand ein Kasernenviertel mit rund 150 Notunterkünften
für rund 1 200 Einwohner zu errichten. In dieser neuen Stadt entwickelte sich
ein neues soziales und kommerzielles Leben. Noch heute kennt jeder Sankt-Vither
diesen Stadtteil als 'Neustadt'. Inzwischen wurde das Zentrum, wie in vielen
deutschen Städten, nach den Federstrichen der anonymen Stadtarchitektur der 1950er
Jahre wieder aufgebaut.
Zwischen
1966 und Anfang der 1980er Jahre wichen die baufälligen und größtenteils
unbewohnten Kasernen in der Neustadt komfortablen Sozialwohnungen. Die
Nachbarschaft beteiligt sich kaum an den Aktivitäten. Auf dem
benachbarten Carrefour-Parkplatz, in Richtung Zentrum, geht der Kontakt bei den
meisten Autos aus. Näher kommen sie nicht.
Ich gehe die Handvoll Sackgassen und Fußwege auf und ab, rieche den köstlichen Curryduft und höre eine Überseesprache durch ein offenes Fenster. Ich lese den Namen Silvio Gesell auf einem Straßenschild und erfahre später am Abend, dass er im preußischen Sankt-Vith des späten 19. Jahrhunderts als selbsternannter ethischer Vegetarier und Weltbürger aufgewachsen ist. Ich kann mir vorstellen, dass Silvio es sich dort mit seiner Lebensvision nicht leicht gemacht hat. Gleichzeitig wünsche ich ihm die Möglichkeit zu erkennen, dass Glückssucher heute in seinem Namen sozusagen eine Heimat gefunden haben. Es klingt auch so viel weniger anonym als 'Neustadt'...